September 10, 2021

Ein Forum für empathische Zeitzeugnisse

Die Kurator*innen Kateryna Botanova und Jurriaan Cooiman führen in die Themenschwerpunkte der diesjährigen Festivalausgabe ein. 

Beim Anflug auf Amazonien – auf Iquitos am perua­ nischen Amazonas oder Manaus in Brasilien – bietet sich eine Luftaufnahme des gewundenen Flusses und des riesigen, scheinbar endlosen, üppig grünen Regen­waldes. Diese Städte, diese amazonischen Megalopolen liegen mitten im Wald, eingezwängt zwischen unzähligen Bäumen. Der Blick lässt die Macht des grössten Regen­ waldes der Welt eindrücklich sichtbar werden, ohne die Nuancen der Leben preiszugeben, die unter seinem grü­ nen Dach gelebt werden.

Westliche Vorstellungen vom Amazonas sind geprägt von Superlativen, euphorischen wie schrecklichen. Das vorherrschende Bild lehnt sich meist an die Faszination europäischer Naturkundler*innen oder an die bildstarken Diskurse zu ökologischer und politischer Zerstörung an: durch Brandstiftung verursachte Feuersbrünste, Versteppung, Proteste und staatliche Vergeltungsmassnahmen. Doch während die staatliche Gewalt auf den Strassen der neun Länder am Amazonas in den interna­ tionalen Medien präsent ist, bleibt die Gewalt im Wald, die sich gegen die indigenen Nationen richtet, oft weit­ gehend unbemerkt.

Die indigenen Völker des Amazonas haben ihre eigenen Luftaufnahmen des Flusses und des Waldes. Indigene Schaman*innen, Heiler*innen und andere Mitglieder der Gemeinschaft erzählen oft, wie sie in ihren Ritualen den Wald von oben sehen können, den Blickwinkel eines Vogels einnehmen, der seine Umgebung als Netzwerk wahrnimmt, in dem alles – Tiere, Pflanzen, Wasser, Men­schen, Geister – untrennbar miteinander verbunden ist. Es gibt keine Abstände, keine Abgrenzungen, keine Abwägungen. Stattdessen sind da Symbiose, Teilhabe und Fürsorge. Wie in anderen Biomen, Ökosystemen und kritischen Zonen der Erde, prallen auch am Amazonas extrak­ivistische, koloniale, kapitalistische Haltungen auf holistische Weltanschauungen, auf Ungleichheit und auf Unterdrückung der lokalen Bevölkerung. Doch Ama­ zonien ist auch ein Raum, in dem sich mehrere kulturel­le Geografien überschneiden, und der damit Begegnun­gen unterschiedlicher Wissenskorpora, gegenseitige Einblicke und Verständigung möglich werden lässt.

CULTURESCAPES 2021 Amazonas ist den Stimmen und Kosmovisionen Amazoniens, seiner Völker und Verbündeten gewidmet. Es würdigt die Arbeit von Kunstschaffenden und Aktivist*innen, die Weisheit seiner Ältesten und die Worte von Autor*innen, Forscher*innen und Schützer*innen, indigenen wie nicht­in­ digenen. Zwei Monate lang folgt es den thematischen Verläufen des Flusses und der Pfade des Waldes und bringt Künstler*innen, Aktivist*innen, Denker*innen aus den verschiedenen Regionen Amazoniens (Brasilien, Kolumbien, Peru, Bolivien und Ecuador) zusammen. Ihr Schaffen wird in mehr als 40 kulturellen Institutionen der Schweiz zu erleben sein.

CULTURESCAPES 2021 Amazonas bildet den Auftakt zu einer neuen Festivalserie, die auf die Biome der Welt okussiert. Die Reihe wird mit Ausgaben zur Sahara (2023), zum Himalaya (2025) und zu den Ozeanen (2027) weitergeführt. In diesem Jahr konzentriert sich das Fes­ tival auf die Entkolonialisierung, indigenes Wissen, die anhaltende extraktivistische Gewalt und den ökologi­ schen Widerstand. In diesem Sinne möchte CULTURESCAPES 2021 Ama­ zonas als Forum für empathische Zeitzeugnisse fungie­ren, trotz der Komplikationen, die diese Position mit sich bringt.

Das Darlegen mit einem empathischen Ansatz und die Bereitschaft, zuzuhören und zu lernen gehören zu den wenigen Möglichkeiten, Verbindungen zwischen unterschiedlichen Welten zu weben und so eine gemein­same Vorstellung einer radikal entkolonialisierten, einer nicht­kolonialen Zukunft anzudenken.

- Kateryna Botanova und Jurriaan Cooiman, Kurator*innen; Auszug aus der Einleitung des Buches  "Amazonia: Anthology as Cosmology."

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