September 11, 2023

Ein Künstler zu sein ist eine Mission

Serge Aimé Coulibaly, Choreograf der Eröffnungsvorstellung des Festivals «C La Vie», im Gespräch mit Yarri Kamara

Vor fünf Jahren sass ich auf den harten Holzbänken des Freilichttheaters des Nationalen Instituts für Kunstausbildung in Ouagadougou, um die Premiere von «Kirina» des burkinischen Choreografen Serge Aimé Coulibaly zu sehen. Die Aufregung im vollbesetzten Theater war greifbar: Einer der grössten Namen des afrikanischen Tanzes, der bereits zahlreiche internationale Auszeichnungen erhalten hat, präsentierte eine neue Show, und die Menschen waren gespannt auf das Stück, das von Sundjata Keita und dem grossen malischen Reich handelt. Es war nach der Schlacht von Kirina, als Sundjata Keita in Kurugan Fuga die Charta der Manden verkündete und das Mali-Reich gründete, das sich in seiner Blütezeit von Senegal bis Burkina Faso erstreckte.

Die folgenden neunzig Minuten waren von unglaublichem Leben und Energie erfüllt: neun Tänzer, sechs Musiker, ein Slam-Poet als Erzähler und Dutzende von Statisten in ständiger Bewegung zu einer erhabenen, von der malischen Sängerin Rokia Traoré komponierten Musik. Die Handlung war nicht geradlinig; wer sein Wissen über die Geschichte der Manden auffrischen wollte, wurde enttäuscht. Stattdessen beschwor «Kirina» Momente aus dem Epos von Sundjata Keita und dem Aufstieg und Fall des Mali-Reiches als Ausgangspunkt, um über moderne Tragödien zu sprechen.

In diesem Interview darüber, wie die Charta von Manden sein Leben und seine Kunst beeinflusst hat, sagt Coulibaly, dass er mit «Kirina» mit Europa über Migration sprechen und einige dieser anonymen Seelen, die trostlos an die Küsten des Mittelmeers gespült werden, mit einer Vergangenheit voller Grandesse verbinden wollte. Eine Kritiker:in bemerkte, dass die Tänzer:innen in «Kirina» immer wieder zum Plié zurückkehren, jener Bewegung der Verwurzelung, die dem afrikanischen Tanz zugrunde liegt. Fest verwurzelt mit der Erde, der Quelle, nehmen die Tänzer:innen die Energie und die rhythmische Kraft auf, um zu neuen Bewegungen aufzubrechen. Diese Beschreibung lässt sich vielleicht auf die Arbeit von Coulibaly übertragen: Ausgehend von den afrikanischen Wurzeln schlägt er durch die Universalität der Emotionen neue Lesarten vor, um die Gegenwart zu erfassen und die Zukunft zu gestalten.

Yarri Kamara:

Sie stammen ursprünglich aus dem Westen Burkina Fasos, einer Region unter dem Einfluss der Manden. Haben Sie als Kind das Erbe der Manden-Charta in Ihrem täglichen Leben gespürt? Ist das der Grund, warum Sie das Stück «Kirina» geschaffen haben? Oder wollten Sie diesen historischen Moment heraufbeschwören, weil er den meisten Afrikaner:innen heute nicht bekannt ist?

Serge Aimé Coulibaly:

Beides. Ich habe meine gesamte Kindheit in der Welt der Manden verbracht. Ich besuchte die Grundschule in einem kleinen Dorf namens Sido, im Südwesten von Burkina Faso und ganz in der Nähe der Grenze zu Mali. Obwohl es eine Senoufo-Region war, wurde sie kulturell von den Manden geprägt. Die ganze Musik, die wir hörten, war Manding-Musik. Wir sind mit einer starken Kultur aufgewachsen, ohne uns dessen wirklich bewusst zu sein. Die Kultur ist überall um einen herum. Man verzehrt sie, man saugt sie jeden Tag auf. Aber in der Schule wurden wir mit allem Französischen indoktriniert. Man lehrte uns französische Geschichte. Man hat nicht viel über die Geschichte der Manden gehört, aber man ist in sie eingetaucht. Erst später im Leben wird man sich ihrer Bedeutung bewusst.

Im Jahr 2003 war ich Tänzer in Alain Platels C de la B-Kompanie in Belgien. Es war ein grosses Ensemble, und in der Show, in der ich mitwirkte, waren mehr als vierzig Tänzer:innen. Ich war der einzige Afrikaner. Und irgendwann hatte ich richtiges Heimweh, ich wollte zurück nach Hause. Und ich konnte meine Heimat nur durch Musik finden, aber nicht durch irgendeine Musik: Manding-Musik. Für die Show musste ich ein Solo zu einem Stück von Mozart kreieren. Ich legte die Musik auf und sie sprach mich überhaupt nicht an. Ich habe alles versucht, aber es kam nichts. Alle Europäer:innen hörten sich Mozart an und sagten: "Oh ja, das werde ich auch machen." Ich habe das gesehen und war verzweifelt. Schliesslich legte ich zwei CDs gleichzeitig auf: Mozart und Salif Keita. Ich konnte mit den Liedern von Salif Keita arbeiten, und als ich gleichzeitig Mozart spielte, bemerkte ich die Akzente, die zusammenkamen. Und als ich nach und nach mein Solo kreierte, nahm ich Salif Keita heraus und behielt Mozart. Es gab eine Stärke in meinem Solo, die die Leute nicht definieren konnten; es war nicht Mozart, es war Salif Keita.

Als Künstler stelle ich heute fest, dass immer noch wenig über die Welt der Manden gelehrt wird. Wenn man die Manden-Charta erwähnt, ist die Reaktion der Leute oft "Nein, das stimmt nicht". Es ist, als hätte sich die Welt verschworen, über eine ganze Region der Welt, den Ort, an dem die Menschheit geboren wurde, nichts zu wissen. Dass eine ganze Region ohne eine starke Kultur, ohne Wissen, ohne Spuren von Dingen aus ihrer Vergangenheit war. Das ist unfassbar. Für eine Künstler:in in Afrika besteht heute eine Verantwortung, ob man sie annimmt oder nicht - und ich nehme sie an -, ein Sprecher für einen Teil Afrikas zu sein, der tiefgreifende und wichtige Dinge zu sagen hat, Dinge, von denen die Welt lernen kann. Was uns selbst betrifft, so können wir als Afrikaner:innen uns auf diese Weise mit Stolz wiederentdecken. Wir können zu unseren Wurzeln zurückkehren und der Welt mit Stolz gegenübertreten.

YK:

Welcher ist Ihr Lieblingsartikel der Charta von Manden und warum?

SAC:

Auf jeden Fall der Artikel, in dem es heisst: "Jedes Leben ist ein Leben". Ein Leben ist nicht respektabler als ein anderes Leben, nicht wertvoller als ein anderes. Das ist etwas Grundlegendes für die Welt, in der wir heute leben.

Wenn wir die globale Bewegung unserer Welt betrachten, stellen wir fest, dass es Hierarchien des Lebens gibt, und wir nehmen wenig Rücksicht auf manche Leben, vor allem auf die afrikanischen. Wir nehmen in Kauf, dass Tausende von jungen Menschen im Mittelmeer sterben; es berührt uns nicht. Im Gegenteil, wir fördern sogar ihren Tod im Meer. Wir haben einen Punkt der Gefühllosigkeit erreicht, an dem nicht einmal mehr die Medien über solche Todesfälle berichten. Und schlimmer noch: Vor einigen Jahren wurde Carola Rackete, eine Frau in Italien, die Migranten gerettet hatte, vor Gericht gestellt und inhaftiert, weil sie Menschenleben gerettet hatte. Wir haben ein solches Mass an Gefühllosigkeit erreicht, weil wir - ich spreche jetzt als Westler - die anderen nicht als vollwertige menschliche Wesen betrachten, als einen Menschen, der den gleichen Wert hat wie wir. Wenn zwei Französ:innen im Mittelmeer ertrinken, werden wir eine Woche lang darüber reden, und nicht nur die westlichen Medien, sondern sogar die afrikanischen Medien werden es aufgreifen. Wir würden darüber reden, als ob es wichtiger wäre als die anderen Todesfälle, die es jeden Tag gibt.

Wenn ich eine andere Person als ein menschliches Wesen betrachte, das auf der gleichen Stufe steht wie ich selbst, dann ist die Rücksicht, die ich auf sie nehme, ganz und gar nicht dieselbe wie auf jemanden, den ich als weniger wert erachte als mich. Man wird nicht auf die gleiche Weise willkommen geheissen, ob man ein:e Prinz:essin oder ein:e Bettler:in ist. Das führt zu einer Menge Frustration in unserer Welt. Es gibt einige, die meinen, sie hätten ein Recht auf mehr. Und das führt zu Rebellion, zu Forderungen und so weiter. Infolgedessen leben wir in einer Welt, die ständig destabilisiert wird, weil ein menschliches Leben nicht immer als menschliches Leben angesehen wird.

Um es auf eine andere Ebene zu bringen: Einige Länder haben das volle Recht, Atomwaffen zu produzieren und zu testen, was sie wollen. Keiner sagt ein Wort dazu. Anderen Ländern wird die Herstellung von Atomwaffen untersagt, weil sie als nicht reif genug angesehen werden, um unsere Sicherheit zu gewährleisten, während wir die erste Gruppe von Ländern als reif akzeptieren müssen. Die Instabilität der Welt ist darauf zurückzuführen, dass der Grundsatz, dass alle Menschenleben gleich sind, nicht respektiert wird.

YK:

Mit der Charta von Manden wurde auch «sanankunya» eingeführt, d. h. eine scherzhafte Verwandtschaft, eine soziale Einrichtung, die eine scherzhafte Beziehung zwischen den Menschen herstellt und dazu beiträgt, alle an Demut zu erinnern. Diese scherzhafte Verwandtschaft wird in den meisten westafrikanischen Ländern noch immer praktiziert. Was bedeutet sie für Sie als soziale Einrichtung? Glauben Sie, dass sie dazu beitragen kann, die Spannungen in der Region abzubauen, die heute zunehmend ethnisiert werden?

SAC:

Es ist der «sanankunya» zu verdanken, dass die westafrikanischen Gesellschaften bis heute in relativem Frieden gelebt haben. Wenn es in Burkina Faso ein Problem zwischen zwei ethnischen Gruppen gibt und die «sanankunya» der einen oder anderen Gruppe auftauchen, entschärfen sie die Situation ganz einfach mit Humor. Als ich ein Kind war, gab es oft Probleme zwischen Bäuer:innen und Hirt:innen, wenn das Vieh die landwirtschaftlichen Produkte frass und so weiter. Wir riefen dann immer die «sanankunya» des anderen an, um darüber zu reden und die Krise zu beruhigen. Das ist eine Praxis, die die Gesellschaft auf unglaubliche Weise reguliert. Zumindest im traditionellen Leben. In der Stadt werden die Dinge komplizierter, da die Gesellschaften immer moderner werden. Wenn ich nach Burkina zurückkehre, ärgere ich mich oft, wenn jemand im Geiste von «sanankunya» anfängt, mich anzugreifen und Witze auf meine Kosten zu machen. Ich möchte dann sagen: Warum sagst du das? Ich muss an meine traditionelle Seite appellieren, ruhig zu bleiben und die Witze zu akzeptieren.

Wie bei jeder Praxis kann es Exzesse oder Missbräuche geben, aber alles in allem trägt «sanankunya» viel dazu bei, dass die Menschen miteinander leben können und die Gesellschaft stabil bleibt. Man könnte es sogar auf die Religion anwenden, denn die Religion ist eine weitere Institution, die die Gesellschaft reguliert.

YK:

In Artikel zwei der Charta wird die Gesellschaft in verschiedene Clans mit unterschiedlichen Rollen unterteilt. Es gibt den Nyamakala-Clan, der sich der Aufgabe widmet, den Häuptlingen die Wahrheit zu sagen, d.h. die Wahrheit zur Macht zu bringen. Als Künstler müssen Sie das lieben. Aber in dem Artikel heisst es weiter, dass sie die bestehenden Regeln und die Ordnung im ganzen Reich mit Worten verteidigen müssen. Welcher Teil dieses Artikels hat sich während Ihrer künstlerischen Laufbahn in Afrika am meisten auf Sie bezogen? Hat man Ihnen häufiger gesagt, dass Sie zu sehr gegen die Regeln verstossen haben, oder hat man Ihnen künstlerische Freiheit zugestanden?

SAC:

Ich bin in einem sehr politischen Umfeld aufgewachsen. Ich war oft mit älteren Brüdern zusammen, die immer über Politik sprachen, und ich war das, was man einen «Pionier» unter Thomas Sankaras Revolution nannte. Ich war ein Teenager, als Sankara starb, und diese Zeit hat mich wirklich geprägt: all die Volksaufstände, die nach seinem Tod in Burkina stattfanden. Im Jahr 1989 gab es überall gewalttätige Demonstrationen. Ich habe an vielen dieser Aufmärsche teilgenommen.

Als ich anfing, meine Shows zu kreieren, stand der politische Aspekt für mich an erster Stelle. Ich wollte auch provozieren; Dinge zu sagen, die die Autoritäten erschüttern konnten, hat mich sehr gereizt. Aber erst 2007 nahm dieser Wunsch wirklich konkrete Formen an. Ich schuf ein Stück mit dem Titel «When I was a Revolutionary,» die ich in «Solitude of a Man of Integrity» umbenannte. Ich habe es für den zwanzigsten Jahrestag des Todes von Thomas Sankara geschaffen. Ich wurde bedroht, mir wurde gesagt, ich solle es nicht machen. Mehrere Leute sagten zu mir: «Niemand spricht über Sankara, wie kannst du es wagen, eine Sendung über ihn zu machen?» Ich hatte einen Onkel, der zu dieser Zeit im Parlament arbeitete. Er forderte mich auf, mich zur Vernunft zu bringen. «Du kannst in diesem Land vernichtet werden,» warnte er. Das Einzige, was ich sagte, um ihn zum Schweigen zu bringen, war: «In welchem Jahr wurde Sankara Präsident? In welchem Jahr ist er gestorben? Ich bin mittendrin in dieser Zeit. Wenn ich nicht sage, was ich denke, fliehe ich vor meiner Verantwortung, das heisst, ich nehme mein menschliches Leben und meinen Beruf nicht ernst genug. In meinem Alter war Sankara bereits Präsident.»

Der nationale Fernsehsender kam, um die Aufführung zu filmen, und sie kam in die Nachrichten. Aber zu meiner grossen Überraschung sprach man in der Reportage über alles Mögliche, nur nicht über Sankara. Man konnte nicht erkennen, dass es in der Aufführung um Sankara ging. Das war ziemlich seltsam.

2014 gab es eine weitere Show, «Sleepless Nights in Ouagadougou,» in der es um die Revolte des Volkes ging, um die Machtübernahme der Jugend, und in der ein sehr offener Songwriter, Smockey Bambara, mit uns auf der Bühne stand. Diesmal sind wir sehr weit gegangen, denn wir haben in der Show tatsächlich den Namen des amtierenden Präsidenten genannt. Man hatte uns ausdrücklich davon abgeraten, mit der Show weiterzumachen. Das Risiko war so gross, dass ich jedes Mal, wenn ich das Haus verliess, einen anderen Weg einschlug. Mein Onkel, derselbe wie früher, kam zur Generalprobe. Er sagte: «Du wettest auf den Sturz von Blaise Compaoré. Wenn er nicht geht, müsst ihr das Land verlassen.»

Als wir die Show aufführten, spielten wir tatsächlich mit unseren Leben. Wir hatten nicht einmal das Gefühl, dass wir schauspielern würden. Du stehst auf der Bühne, mit all dem Adrenalin und einem elektrisierten Publikum und denkst: «Diese Leute sind verrückt, sie werden uns in Schwierigkeiten bringen.» Das Magische an der Show war, dass drei Tage nach der Premiere die Regierung tatsächlich gestürzt wurde. Das war eine wunderbare Sache. Danach fiel es uns schwer, die Show aufzuführen, weil das Adrenalin weg war. Es war, als ob der Saft der Aufführung weg war.

Ein Künstler zu sein ist eine Mission. Ich bin auf einer Mission und versuche, Dinge an Orten zu sagen, an denen mich nicht jeder haben will, aber ich habe diesen Zugang zu einer grossen Anzahl von Menschen. Vor fünfhundert oder gar tausend Menschen auftreten zu können, ist eine unglaubliche Chance. Da der Lauf unserer Welt nicht sehr gut ist und ich zudem von einem Kontinent komme, über den der Rest der Welt nichts weiss, ist es wichtig, etwas zu sagen. Und das nicht nur gegenüber der Regierung. Meine Mission hat sich nach «Sleepless Nights in Ouagadougou» etwas verändert. Alle meine früheren Stücke waren sehr engagiert und mit Burkina verbunden. Nach «Sleepless Nights» hatte ich den Eindruck, etwas erreicht zu haben, auch wenn ich weiss, dass es nur ein glücklicher Zufall war, also habe ich die Richtung geändert. Heute konzentriere ich mich mehr darauf, etwas über die Welt zu sagen. Das ist auch der Grund, warum ich das Thema «Mali Empire» gewählt habe. Mit dem Stück «Kirina» wollte ich eigentlich über Migration sprechen. Ich wollte über die Afrikaner:innen sprechen, die wie menschliche Wracks an den europäischen Stränden angeschwemmt werden, um darüber zu sprechen, woher sie kamen, um die Welt wissen zu lassen, dass die Manden im dreizehnten Jahrhundert der Welt voraus waren, was die Schaffung einer Gesellschaft anging. Während sich ein Teil der Welt in einem Zustand der Barbarei befand, waren die Manden organisiert. Die Beschäftigung mit der Migration war eine Möglichkeit, diese an Europas Küsten gestrandeten Menschen mit der grossen Vergangenheit dieses Teils Westafrikas in Verbindung zu bringen. Und auch, um uns an die Bewegung der Geschichte zu erinnern: In einem Moment waren wir auf dem Zenit, und dann stürzten wir ab. Die Dinge können sich jederzeit ändern.

YK:

Ich hatte das Glück, der Premiere von «Sleepless Nights in Ouagadougou» vor dem Sturz von Blaise Compaoré beizuwohnen; das war wirklich elektrisierend. Mit «Kirina» und seiner Beschwörung der Geschichte der Manden haben Sie sich an die ganze Welt gewandt. Sie reisen mit Ihren Shows viel um den Globus. Gibt es einen unerwarteten Teil dieser Welt, in dem Sie das Gefühl hatten, dass die Charta von Manden oder ganz allgemein das Epos der Manden eine besondere Resonanz hat?

SAC:

Lassen Sie mich mit Westafrika beginnen und dann weitergehen. Dort spürt man, dass die Menschen wirklich in die Manden-Kultur eingetaucht sind. Nach der Arbeit an «Kirina» wurde ich aufmerksamer, wenn die Griots sangen, und hörte genau auf die Phrasen, mit denen sie die Grösse, die in jedem von uns steckt, erwecken. Wenn der Griot anfängt, über den eigenen Familiennamen zu sprechen und die Vorfahren aufzuzählen, ist dieser Stolz unaussprechlich. Und man sieht Menschen, die bereit sind, alles Geld, das sie haben, dem Griot zu geben, weil sie uns menschlicher als menschlich gemacht haben. Und in den Worten der Griots oder in den Liedern der Manden im Allgemeinen kann man Spuren der «Kurugan Fuga,» der Charta von Manden, hören.

Was die Resonanz der Charta ausserhalb Westafrikas betrifft, so fällt mir aus irgendeinem Grund ein Ort ein, der weit von den Manden entfernt ist. Ich habe in einer kleinen Stadt im Norden Westaustraliens gearbeitet, die Broome heisst und zweieinhalb Flugstunden von Perth, der nächstgelegenen Stadt, entfernt ist - so abgelegen ist sie. In Broome gab es eine sehr grosse Aborigine-Gemeinde, aber auch eine gemischtrassige Gemeinde, dank der Chinesen und Japaner, die in den 1920er Jahren aus Asien kamen, um in der Perlenindustrie zu arbeiten, und die Paare mit Aborigine-Frauen bildeten, was zu einer unglaublichen Mischung führte. Wenn man sich die Menschen in Broome anschaut, fragt man sich, woher sie eigentlich kommen. Es ist sehr schön. Aber es gibt auch viele Aborigines, die unterdrückt, an den Rand der Gesellschaft gedrängt und ausgegrenzt werden. Es fühlt sich an wie Apartheid. Wenn man sich die Aborigines ansieht, fragt man sich: «Moment mal, gehört das ganze Land nicht eigentlich ihnen?» Aber da sind sie, mittellos. Und die Manden-Charta wirkt nach, weil sie nicht angewendet wird. Die Charta enthält das Prinzip der gegenseitigen Hilfe. Wenn man etwas hat, teilt man es mit anderen, damit sich jeder in seiner Heimat wohlfühlen kann, und das wiederum schützt die Heimat. Wenn in Afrika jemand reich ist, kann man sicher sein, dass er sich um eine grosse Anzahl von Menschen kümmert. Das ist tief verwurzelt. Wenn ich etwas habe, bedeutet das, dass andere einen Teil davon haben. Aber wir können das auch vergessen. Wenn ich mit meiner westlichen Denkweise nach Burkina Faso zurückkehre und die Leute anfangen, meine Sachen zu teilen, gibt es zunächst Widerstand. Man will, dass sich die Dinge um eine:n selbst drehen.

In Broome war es so klar, dass nichts geteilt wurde. Und es war brutal, das zu beobachten. Zum Glück ändern sich die Dinge, ich höre, dass immer mehr Aboriginals in den australischen Senat und das Parlament einziehen. Wenn die Manden-Charta oder die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wirklich angewandt würde, würde die Menschheit heute besser leben. Aber in der gegenwärtigen Situation werden gerade diejenigen angegriffen, die versuchen, diese Prinzipien anzuwenden.

YK:

Artikel siebzehn der Manden-Charta ist sehr überraschend. Darin heisst es: "Lügen, die vierzig Jahre überdauert haben, sollten wie Wahrheiten betrachtet werden". Können Sie uns eine Interpretation dieses Artikels vorschlagen?

SAC:

Ich kannte diesen Artikel vorher nicht. Ich denke, dass er aus einem bestimmten Kontext, einer bestimmten Zeit stammt. Wenn eine Lüge überlebte, dann deshalb, weil die Lüge die Gesellschaft regulierte, sie hielt die Gesellschaft friedlich. Wenn wir zusammenleben wollen, müssen wir die Lüge irgendwie akzeptieren, denn sie zu bekämpfen, kann mehr Probleme schaffen als lösen. Vierzig Jahre, das war zu Sundjata Keitas Zeiten ungefähr die menschliche Lebensspanne. Wenn eine Lüge ein Leben lang überlebte, bedeutete dies, dass die Gesellschaft sie brauchte. Spätere Generationen, die in einer anderen Zeit leben, können die Lüge erschüttern und die Wahrheit ans Licht bringen. Neue Generationen werden etwas anderes vorschlagen.

 

Yarri Kamara ist Schriftstellerin, Übersetzerin und Politikforscherin. Sie stammt aus Sierra Leone und Uganda und hat 17 Jahre lang in Burkina Faso gelebt. Yarris Essays sind in Africa Is A Country, The Republic, Lolwe, Courrier International und Welt-Sichten erschienen. Für ihre Übersetzung von Monique Ilboudos Roman «So Distant From My Life» (Tilted Axis Press, 2022) erhielt sie ein PEN-Heim-Übersetzungsstipendium. Ihre Forschungsarbeit dreht sich hauptsächlich um die Politik der Kulturindustrie bei Organisationen wie der UNESCO. Sie lebt derzeit in Mailand und ist Mitherausgeberin von «Sahara: A Thousand Paths Into the Future» (Sternberg Press, 2023) und Mitglied des künstlerischen Beirats von Culturescapes 2023 Sahara.

«C La Vie» eröffnet die Culturescapes 2023 Sahara am 1. Oktober 2023. Buchen Sie Ihre Tickets hier.

Fotos: Serge Aimé Coulibaly & Faso Danse Théâtre. Kirina. 2018 © Sophie Garcia

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