September 20, 2023

Grenzen, Widerstandsfähigkeit, Zukünfte

Culturescapes-Ko-Kuratorin Kateryna Botanova über den Sahara-Fokus des Festivals

Auf dem makellosen Rasen des Solitude-Parks in Basel, Schweiz, gleich neben dem Rhein, steht eine Struktur aus seltsam geformten Stahlstäben, die eng mit Pflanzenfasern umwickelt sind. Einige bilden perfekte Halbkreise, andere sind verdreht und gebogen, als würden sie den Kurven des nahen Flusses folgen. An einem sonnigen Tag kann man eine Menge Kinder und manchmal sogar Erwachsene auf dieser Struktur klettern, schaukeln und springen sehen, obwohl nichts darauf hinweist, dass es sich um einen Spielplatz handelt. Doch es handelt sich tatsächlich um einen Spielplatz, ein interaktives, mit Pflanzenfasern bespanntes Spielgerät im Freien, geschaffen von der nigerianischen Künstlerin Temitayo Ogunbiyi im Auftrag des Museums Tinguely für das Festival Culturescapes 2023 Sahara.

Indem sie Spiel und Verspieltheit als Erfahrungen von Freiheit, spontaner und unbeeinflusster Interaktion und Bewegung untersucht, blickt Temitayo auch in Bereiche, in denen die Interaktion begrenzt, die Bewegung eingeschränkt und die Freiheit rar ist. Die Spielplatzstangen skizzieren verschiedene Wege, die Basel mit Lagos, ihrer Heimatstadt, und verschiedenen Diaspora-Gemeinden innerhalb Basels verbinden: einige gerade, die die Flugroute nachzeichnen, und einige verdrehte, die den von Google gezeichneten imaginären Wanderwegen folgen.

Laut Google würde ein Fussmarsch von Lagos nach Basel zweiundvierzig Tage dauern: Die Route führt nach Norden, über den sahelischen Teil Nigerias, schlängelt sich durch die Sahara - Niger, Algerien, Tunesien -, und selbst Google weiss, dass Menschen nicht auf dem Wasser gehen können, und verlangt daher eine Fähre von Tunis nach Gerona, um dann wieder zu Fuss durch Italien, über die Alpen und voilà - nach Basel zu gelangen.

Die Sahara, die grosse afrikanische Wüste, die einst ein Netz aus zahlreichen Wegen und Routen war, ist in dieser Installation sowohl als physischer als auch als imaginärer, geografischer und symbolischer Raum präsent. Es war eine Übung in der Gleichzeitigkeit von Möglichkeiten - Verbindung, Bewegung, Zirkulation - und der Unmöglichkeit, die Sahara aus postkolonialen, geopolitischen und ökologischen Gründen tatsächlich zu durchqueren. Hinter der von der KI gezeichneten ungefähren Route verbergen sich zahlreiche echte Wege, viele davon sind Fluchtrouten, auf denen zahllose reale Menschen versuchen, in den Norden zu gelangen und dort zu leben. Unzählige Menschenleben sind durch die Hoffnung auf ein Überleben verloren gegangen oder verletzt worden.

Die Sahara steht im Mittelpunkt des Culturescapes-Festivals, dessen zwanzigjähriges Jubiläum Temitayos Werk einleitete. Culturescapes 2023 Sahara wird am 1. Oktober mit der Tanzperformance des burkinisch-belgischen Choreographen Serge Aimé Coulibaly "C La Vie" im Schauspielhaus des Theater Basel eröffnet und präsentiert während zwei Monaten fast 80 Künstler:innen und Künstler. Gemeinsam mit Künstler:innen und Künstlern, Kurator:innen und Kuratoren sowie Kulturschaffenden erkundet Culturescapes 2023 Sahara die Rolle, die die Wüste in den komplexen Beziehungen zwischen verschiedenen Teilen Afrikas und der fragilen Beziehung zwischen Afrika und Europa gespielt hat und heute spielt.

"Historisch gesehen gibt es keinen Grund, den Kontinent in den Norden und den Süden der Sahara zu teilen", schreibt Achille Mbembe in seinem Essay «Circulations», der auch in der Festival-Anthologie «Sahara. A Thousand Paths Into the Future» zu finden ist. Nichtsdestotrotz schaffen die kolonialen Grenzen, die strukturellen und symbolischen Strassensperren - oder im Gegenteil, das Fehlen von Strassen und Kommunikationsverbindungen -, geopolitische Spannungen und Rassifizierung immer noch zahlreiche Brüche im Raum der Sahara. Culturescapes schlägt vor, diese Brüche zu hinterfragen, um mögliche Wege zur Heilung und Wiedervereinigung zu finden. Das Festivalprogramm könnte auch entlang dreier thematischer Linien gelesen werden: Grenzen, Resilienz und Zukünfte.

Ist die Sahara eine Barriere, eine undurchlässige Grenze, ein unfruchtbares, feindliches Land? Oder ist sie ein Lebensraum für verschiedene Völker und Nichtmenschen, die sie zu ihrer Heimat, zu ihrer Reiseroute gemacht haben? Ist die Sahara, die von den geraden Linien politischer Grenzen durchzogen ist, die von fernen fremden Herrschern gezogen wurden, ein Zeugnis der Kolonialzeit oder ein Raum, in dem es möglich ist, diese Grenzen und ihre Folgen in Frage zu stellen und dazu aufzurufen, sie neu zu ziehen? Die Frage nach den Grenzen als Ausdruck und Ursache von Gewalt ist eine Frage nach den Machtstrukturen, die sie ermöglichen und aufrechterhalten, sowie nach den verschlungenen Verbindungen und Beziehungen, die unter und jenseits der sichtbaren Grenzen liegen.

Der verstorbene westsaharauische Dichter Badi schreibt über tishuash, ein Gefühl, das man grob mit "Nostalgie" oder, genauer gesagt, "die Freude an der Erinnerung an Vergangenes" übersetzen könnte. Wie viele andere Saharauis seit der marokkanischen Invasion von 1975 verbrachte er seine letzten Jahre in einem Flüchtlingslager und schrieb über die Kämpfe und tishuash (Culturescapes 2023 Sahara hat einen besonderen Schwerpunkt auf die Westsahara, das Leben und den Widerstand ihrer Bewohner). Für die Völker im Grossraum Sahara-Sahel sind Widerstand, Kampf und Überleben eine Lebensweise. Gewalt und Leid gehören für viele zur täglichen Realität. Aber das Vokabular des globalen Nordens hat ein passendes Wort dafür - Resilienz. Ein Wort, das von der Faszination der eingebildeten Macht der weit entfernten Machtlosen geprägt ist und uns den tatsächlichen Preis vor Augen führt, den sie dafür zahlen müssen. Wie sähe ein nicht resilientes, aber lebenswertes Leben in der Sahara aus?

Die Sahara und Afrika im Sinne einer Kulturrevolution, eines Umdenkens in den Machtzentren, einer humanistischen Wiederbelebung und einer freien Zirkulation von Menschen und Ideen zu denken, ist das, was die verschiedenen Teile des Culturescapes-Programms als ein multidimensionales Netzwerk mit einem Hauch von Utopie verbindet. Aber ist es nicht gerade jetzt an der Zeit, die Angst vor Utopien abzulegen? Der Sahararaum bietet die Möglichkeit, sich mehrere plurale, nicht lineare Zukünfte für eine gerechtere und gleichberechtigte, liebevollere und menschlichere Welt vorzustellen. Wie der senegalesische Philosoph Felwine Sarr schreibt: "Von diesem Tag an, wie zur Zeit der ersten aufgehenden Sonnen, wird Afrika wieder die spirituelle Lunge der Welt werden.”

Foto: Temitayo Ogunbiyi. You will follow the Rhein and compose play. Museum Tinguely, Basel. © Matthias Willi 

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