September 14, 2021

Ein Wald, der im Raum schwebt

Die Natur kann sich nur vorstellen, wer ausserhalb derselben steht. Wie soll ein Baby im Uterus sich seine Mutter vorstellen? Wie soll sich ein Samen die Frucht vorstellen? Man stellt sich das Innere von aussen vor. Von Ailton Krenak. 

Die Natur kann sich nur vorstellen, wer ausserhalb derselben steht. Wie soll ein Baby im Uterus sich seine Mutter vorstellen? Wie soll sich ein Samen die Frucht vorstellen? Man stellt sich das Innere von aussen vor.

An einem bestimmten Punkt in der Geschichte entwarf der «zivilisierte Teil» der Menschheit das Konzept der Natur; man brauchte einen Namen für etwas, das keinen hatte. Die Natur ist also eine Erfindung der Kultur, eine Kreation der Kultur und nicht etwas, das vor Kultur kommt. Das hatte eine enorme utilitaristische Wirkung! «Ich grenze mich von der Natur ab und kann sie somit dominieren.» Dieser Denkansatz muss zusammen mit der Vorstellung von Wissenschaft an und für sich aufgekommen sein. Wissenschaft als Form der Kontrolle über die Natur, mit der man umgeht wie mit einem Organismus, den man manipulieren kann. Das ist skandalös. Wer so denkt, ruiniert sich selbst, nicht wahr? Die Menschen verlassen diesen Organismus, werden nicht länger genährt vom fantastischen, Leben spendenden kosmischen Fluss und gehen dazu über, das Leben von aussen zu betrachten. Und wenn die Menschheit das Leben von aussen betrachtet, ist sie zu einer Art Erosion verdammt.

Ich finde es interessant, dass ein expressives Konstrukt modernen Denkens von der Idee ausgeht, dass Natur und Kultur in Konflikt zueinander stünden; zahlreiche Philosoph*innen des 20. Jahrhunderts erörterten diese Auffassung. Es wurde sehr viel zum Thema geschrieben, alles basierend auf einer Verwirrung, die durch logisches, rationales, westliches Denken verursacht wurde. Der wissenschaftliche und technologische Orientierungsverlust, den der Westen gerade erlebt, ist das Produkt dieser Trennung von Natur und Kultur.

Die Menschen schaffen erst die Natur, distanzieren sich von ihr und idealisieren sie dann. Ein Beispiel dafür ist der Atlantische Küstenwald, die Mata Atlântica, die als Teil dieser idealisierten Natur wahrgenommen wird. Tatsächlich ist der Atlantische Küstenwald ein Garten, ein von der indigenen Bevölkerung konstruierter und kultivierter Garten.

Weisse Menschen trennen sich gerne

Ich glaube, das von Eduardo Viveiros de Castro entwickelte Konzept des amerindischen Perspektivismus – das Potential unterschiedlicher Visionen aus anderen Existenzorten als den menschlichen – kann auch in anderen Kontexten angewendet werden. Es ist ein sehr überzeugendes Konzept, das uns die Zeit zu verstehen hilft, in der wir leben. Wenn die Menschen mit dem Planeten nicht in Scheidung leben würden, wäre das Konzept vielleicht nur ein Wissensprodukt ohne direkte Auswirkung auf unser kollektives Leben oder auf die Erhaltung des Lebens auf der Erde. Aber in diesem Stadium des Trennungsprozesses, in dem wir uns befinden, in dem sich Menschen von sich selbst lösen wie Raupen von einem heissen Dach, sich abkoppeln, als hätten sie keine Empathie ...

Es ist absurd. Es ist, als ob da eine Glastrennwand stünde zwischen der Erfahrung eines sich erfüllenden Lebens auf der einen Seite und dem Ort, von dem wir herkommen, auf der anderen. Diese Spaltung macht eine weitere, tiefgreifendere Trennung sichtbar: die Vorstellung, dass der Mensch sich von allem, was auf der Erde existiert, unterscheidet. Es gibt bestimmte Personen, eine Mentalität, die die Vorstellung verabscheuen, dass Menschen ganz eingebunden in den Alltag des Planeten leben, ohne sich davon abzugrenzen. Sie glauben, dass diese Vorstellung sie schwächt, dass sie eine Ablehnung der imaginierten Macht von Menschen, sich von der Natur abzuheben – Menschen zu werden! – sei, eine Ablehnung dieser Sache, die weisse Menschen so gerne tun: sich zu trennen.

Ökologie bedeutet, innerhalb des Willens der Natur zu sein

Kürzlich traf ich eine Gruppe von Erb*innen aus mehreren sehr alten, wohlhabenden Familien. Sie sagten: «Wir möchten einen Fonds schaffen, um die Vermögen unserer Familien aus dem Umlauf zu nehmen, weil dieses Geld die Zerstörung des Planeten mitfinanziert. Wir haben überlegt, im Amazonasraum Land zu kaufen und es der indigenen Bevölkerung zu geben.» «Tun Sie das nicht!», antwortete ich ihnen. «Sie werden die indigenen Gemeinschaften dazu bringen, an Orte zu ziehen, die ihnen nicht gehören. Die sie nicht sind, die nicht die notwendige Ökologie und ihre Kultur schon beinhalten. Wollen Sie wirklich demontieren? Sie können kein Land kaufen, Land ist keine Handelsware.»

Bei jenem Treffen sprach ich über Häuptling Seattles Brief (an den damaligen US-Präsidenten Franklin Pierce, Anm. d. Red.). Um 1850 verschlang die westliche Grenze der Vereinigten Staaten bereits alles. Der amerikanische Krebs hatte metastasiert, war schon von der Ostküste bis zum Pazifik gewandert, wo die Seattle lebten. Ich habe mich über das wirtschaftliche System dieser Gruppe indigener Menschen vor der Ankunft weisser Amerikaner*innen informiert. Sie lebten damals vom Lachsfischen. Ihr Strand war von Felsbrocken unterteilt. Die Wellen warfen Fische auf die Felsen, die so gefangen werden konnten. Ähnlich einem Bild, das Caetano Veloso in einem seiner Lieder verwendet: «Ein Indianer hebt seinen Arm, öffnet seine Hand und pflückt eine Cashewfrucht.» Die Seattle fischten zu einer bestimmten Zeit im Jahr. (Das erforderte die Geduld, die Dinge zu suchen.) Das ist Ökologie: in der Erde, im Innern der Natur zu sein. Ökologie bedeutet nicht, die Natur dem Willen des Menschen anzupassen. Ökologie bedeutet, sich innerhalb des Willens der Natur zu bewegen. (…)

Yvy marã e’ỹ und das Wurmloch

Gemäss der Kosmologie der Yanomami durchleben wir eine dritte Version der Welt. Die erste wurde ausgelöscht, weil ein überliefertes Tabu der Yanomami gebrochen wurde und daraufhin der Himmel auf jene ursprüngliche Welt stürzte und sie entzweibrach. Der Himmel ist, trotz seiner hellen Farbe, sehr schwer; er kann herabstürzen und die Erde spalten. Seither widmen sich die Schaman*innen voll und ganz der Schaffung von Stützelementen. Sie fungieren sozusagen als Architekt*innen des kosmischen Bauprojekts zur Abstützung des Himmels.

Joseca Yanomami zeichnete diese Stützen – auf Anregung von Claudia Andujar, die ihm Bleistifte und Buntstifte gab –, um zu zeigen, wie diese Vorstellung Gestalt annimmt. Man schaut die Bilder an und denkt dabei an die grössten zeitgenössischen Kunstschaffenden: Wie kann es sein, dass dieser Yanomami, der noch nie zuvor einen Stift in der Hand hatte, so zeichnet? Claudia war vom Anblick der Zeichnungen erfüllt; nun gab es unter den Yanomami eine Sprache, die mit ihren Fotografien in Dialog treten konnte. Sie hatte die Yanomami fotografiert und festgestellt, dass die Sprache der Fotografie für sie keinen Sinn ergab.

Danach beginnt sie Zwiesprache zu halten mit dem Denken der Yanomami, ein Prozess, der die Dinge der Welt vollständig verwandelt erscheinen lässt. Ein Baum oder ein Stück Holz, zum Beispiel: Joseca zeichnet eine hängende Form, die einem Spinnennetz ähnelt, mit leuchtenden Dingen und Antennen, die daraus hervortreten, und sagt dazu, dass das eigentlich der Wald sei. «Und wo sind die Wurzeln? Der Boden?» Es gibt keine, der Wald schwebt im Raum. Die Yanomami können sich einen im Raum schwebenden Wald problemlos vorstellen. Weil er für sie ein Organismus ist. Der Wald kommt nicht aus der Erde, ist nicht das Produkt eines anderen Vorgangs. Er ist sein eigener Vorgang. Und wenn er auf dieser Welt, die wir Menschen kennen, nicht länger existiert, tut er es an einem anderen Ort. In gewisser Weise existiert für die Yanomami alles in dieser Welt auch an einem anderen Ort.

Die Guarani denken ähnlich. Für sie ist dieser Planet ein Spiegel, eine unvollkommene Welt. Das Leben ist die Reise zu einem Ort, der Yvy marã e’ỹ heisst, was die Jesuiten mit «Land ohne Übel» übersetzten. Dieses «Land ohne Übel», das verheissene Land, ist eine christlich gefärbte Vorstellung, in der Anschauung der Guarani wird niemandem eine Welt versprochen. Yvy marã e’ỹ ist ein Ort danach, ein Ort, der auf einen anderen folgt. Ein Ort, der dennoch eine Abbildung des gegenwärtigen ist, dennoch der Spiegel eines Ortes, der noch folgt. Die Pajés (Schaman*innen) sagen, dass wir in einer unvollkommenen Welt leben und dass daher auch unser Menschsein unvollkommen ist. Leben ist ein Übergangsritual durch diese unvollkommene Erde, bewegt durch die Poetik eines Ortes, der auch das Spiegelbild des jetzigen ist. Und den Nhandere – den Pfad, der das, was unvollkommen ist, verlässt und versucht, sich auf das, was nicht unvollkommen ist, zuzubewegen – kann man sich als eine Reihe von Vorgängen vorstellen, die geschehen, die im Laufe der Reise das gegenwärtige Bild beenden und ein neues schaffen.

Fragt man die Guarani, ob dieser Ort, auf den sie zugehen, existiert, würden sie verneinen. «Und der Ort, an dem wir uns jetzt befinden?» Sie würden antworten: «Er ist unvollkommen.» Aha, man entkommt einem unvollkommenen Ort und rennt auf einen zu, der noch nicht existiert? Guarani würden dazu sagen: «Ja, weil er nur existieren wird, wenn dieser hier zu Ende geht.» Ich finde das wunderbar! Und ganz besonders wunderbar finde ich das Üben, auf diese Art und Weise zu denken. (…)

Ein Schamane erzählte mir einmal die folgende Geschichte: Omama, der Demiurg der Yanomami, hat einen Neffen, der der Schwiegersohn der Sonne ist. Ich dachte damals: «Die Yanomami sind mit der Sonne verwandt? Da ist jemand, der mit einem Mitglied der Familie der Sonne verheiratet ist? Darüber muss ich in Ruhe nachdenken und schauen, ob diese Sonne, von der er spricht, der Stern am Himmel, ob es die richtige Sonne ist.» Also habe ich besonnen nachgehakt, bis er mir bestätigte, dass es die gleiche Sonne sei.

Mir gefiel die Geschichte, weil sie zeigt, dass es für die Yanomami Wesen gibt, die mit anderen Entitäten, anderen Existenzformen, anderen Kosmologien verhandeln können.

Ein Schamane verliess diese Galaxie und reiste in eine andere, völlig von unserer losgelöste. Er versuchte, zurückzukehren, doch es ging nicht: Er fiel in eine Art Wurmloch. Da schickte er den anderen Pajés Botschaften und bat die Schaman*innen um Hilfe. Er sagte, dass er sich verirrt hätte und die Koordinaten für den Heimweg nicht finden könne.

Ihn zurückzubringen war eine enorme Aufgabe für die Schaman*innen. Sie schafften es, doch der Rückkehrer trug Schäden davon. Den Rest seines Lebens verbrachte er damit, im Garten zu sitzen, im Kanu zu sitzen. Sie mussten ihn in die Sonne bringen und ihn wieder aus der Sonne holen. Wenn die Leute sich unterhielten, sass er bei ihnen, schweigend, und sortierte kleine Stöcke auf dem Boden.

So einen Abstecher zu wagen ist ziemlich gefährlich, nicht wahr?

 

-  Auszug aus dem Text "Our Worlds Are at War" von Ailton Krenak und Maurício Meirelles, veröffentlicht in  "Amazonia: Anthology as Cosmology." Portugiesische Erstveröffentlichung in Olympio–Literatura e arte, #2, 2019,  Englisch online in e-flux Journal #110.

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